1986 . Drehbuch

1986 . Drehbuch

Szene aus dem Drehbuch
... Der greise Kirchenmusiker Anton Bruckner und zweifellos beste Organist seiner Zeit, spielt kurz vor seinem Tod zusammen mit einem imaginären Symphonieorchester in der Stiftskirche zu St.Florian das erste Mal seine NEUNTE SYMPHONIE genauso, wie er sie sich ursprünglich vorgestellt hat.


Da wird dieser fromme "Musikant Gottes", wie er weithin genannt wird, von einem übereifrigen Kleriker daran gehindert weiterzuspielen, weil dieser dämonische Klänge in dessen Symphonie zu hören glaubt ...

Wie alles begann

Die Sinfonie Nr. 9 d-Moll (WAB 109) ist die letzte Anton Bruckners . Drei Sätze der NEUNTEN hat Bruckner vollständig ausgearbeitet, der vierte Satz blieb unvollendet.

 

Der Linzer Pianist, Dirigent und Musikschriftsteller August Göllerich (1859 - 1923) kannte Anton Bruckner noch persönlich und trug als sein Biograph viele interessante Informationen über Bruckner zusammen, die mir mit dem Archiv der Anton Bruckner Privatuniversität für Musik, Schauspiel und Tanz (ABPU) im Linzer Stadtteil Urfahr, Bruckners Leben und Wirken näherbrachten. Göllerichs authentisch zeitgenössische Schilderungen sind für mich überaus wertvolle Vorgaben meiner visuellen Interpretation Bruckners letzter Tage, jedoch bringen sie nur wenig über die Hintergründe bei der Entstehung des für mein Vorhaben alles entscheidenden fehlenden letzten Satzes der NEUNTEN. Nach Göllerichs Schilderung hatte Bruckner den Schlusssatz noch bis zum Tode am Klavier improvisiert, aber es nicht mehr geschafft, die Coda in endgültiger Form schriftlich zu fixieren.
 

UNVOLLENDET versus UNVOLLENDBAR 
   

Das ist die Auslegung eines vom Jurisdiktionsprimat des Papstes geprägten Zeitgenossen, welchen wie Bruckner diese allumfassende Macht der Kirche nachhaltig prägte. Gläubige Biographen aus dieser Zeit können sich den Umstand zunutze machen, dass ihre dahingehenden Beobachtungen, Erkenntnisse und Aussagen im Nachhinein nicht widerlegt werden können. Seine bis heute anerkannte Bruckner-Biographie wäre wohl auch nie veröffentlicht worden, wenn er das für jeden sicht - und hörbare mystische Geschehen um den Schlusssatz der NEUNTEN, nicht wie Beethovens Symphonie Nr. 7 h-Moll D 759 als "unvollendet", sondern wie von Bruckner selbst "von Gottes Gnaden nicht vollendbar" bezeichnet hätte. So ging die NEUNTE trotz widersprechender Skizzen und Zeitzeugenaussagen als "Bruckners Unvollendete" in die Musikgeschichte ein - und nicht wie vom Maestro angedacht ganz bewusst als Äquivalent zu Gottes "unvollenbarer" Schöpfung!

 

Letzte biografische Dokumente deuten darauf hin, dass Bruckner die mit der Schöpfungsgeschichte aufs schärfste konterkarierende Darvinsche Evolutionstheorie kannte und musikalisch einband, aber aufgrund der katholisch aufgezwungenen Ablehnung mit seinem bevorstehenden Tod regelrecht gehadert hat. Wie sollte er seine letzte Symphonie im Sinne eines abgeschlossenen göttlichen Kreationismus mit der final offenen Evolution Andersdenkender in Einklang bringen? Daher hat er auf das aufgeschlossenere Verständnis nächster Generationen gesetzt und letztlich mit dem lieben Gott doch noch einen versönlichen Kontrakt geschlossen, was wortwörtlich belegt ist: "Wenn der liebe Gott will, dass ich meine letzte Sinfonie, die ja ein Preislied Gottes Schöpfung sein soll, fertigmache, so muss er mir eben solange das Leben schenken, denn stürbe ich früher, so hat sich das der liebe Gott selber zuzuschreiben, wenn er ein unvollendetes Werk bekommt..!“.

 

In diesem Kontext stelle ich die Frage in den Raum: Hat Bruckner tatsächlich "unvollendetes" und nicht "unvollendbares" Werk gesagt, oder hat dies der katholische Biograph so verstehen und niedergeschreiben müssen?  Religiöse Begebenheiten beziehen sich nun einmal auf Bereiche, die empirisch nicht überprüfbar sind. Zudem kannte Bruckner noch keine Evolutionstheorie...

 

Es geht hier also explizit um Bruckner automatisch zugeschriebene Phänomene wie seine alleinige gottbezogene Spiritualität, die jedoch allein subjektiver Erfahrung zugänglich sind, die also für Ungläubige weder erklärbar noch objektiv messbar sind und zu denen man mit einem rein rationalen, wissenschaftlichen Ansatz somit keine allgemein schlüssige Aussage über den Wahrheitsgehalt treffen kann. Aus solch geradezu irrationalem Standpunkt heraus verfasste Biographien aus dem 19. Jahrhundert haben leider Einzug in unsere Überzeugung und Repertoire des Allgemeinwissens gehalten.

   

Hier geht es also nicht um faktische Überlieferungen, sondern hier hat wohl eine übernatürliche Macht ihre Finger im Spiel. Die Schönheit der Musik ist damit ein rein göttliches Prinzip. Bei diesbezüglich Bruckner zuzuschreibenden künstlerischen Denkmuster stoße ich auf Grenzen rationaler Erklärungen, zumal man ihn wegen seinem Hang zur Erforschung des Todes - was er für die NEUNTE dringend benötigte - für verrückt erklären und in ein Irrenhaus stecken wollte! Freunde und Ärzte konnten dies gottlob verhindern.   

Da beginnen mir die Ohren zu welken, wie man in Russland sagt.

   

Es ist jedenfalls offiziell bekannt, dass Bruckners behandelnder Arzt Max Auer im Jahr 1924 berichtet hatte, dass der greise Komponist am Ende seiner Tage recht schwach und verzweifelt war und er ihm daher angeboten hat, für ihn den Vierten Satz der NEUNTEN in den Hauptgedanken niederzuschreiben. Bruckner war aber  - wohl aus heutiger erkenntnis gutem Grund - nicht dazu zu bewegen und sagte immer wieder, dass er bei der NEUNTEN auf nächste Generationen hofft, um das offene Ende zu verstehen! 

 

 

TREDIZIMALAKKORD versus DISSONANZEN
 

Aber bleiben wir bei meiner Umsetzung BRUCKNER NEUNTER: Zugegeben, was für einzelne Brucknerianer der fluktuierende Tredizimalakkord auf dem Zenit des Adagio BRUCKNERS NEUNTER sein mag, ist für die überwiegende Mehrheit der einfachen Freunde klassischer Musik das ungemein dramatische Klangbild und die überraschenden kinematisch anmutenden Dissonanzen und Stopps in dem bevorzugten Konglomerat an langsamen Tempi und Pausen. 
 
Nach Abhören vieler verschiedener Einspielungen BRUCKNERS NEUNTER von bekannten Stardirigenten, angefangen bei Furtwängler oder Schuricht bis Wand oder Abbado, kam ich zum überraschenden Schluss, dass in der Summe allesamt doch nur einen musikalisch hochwertigen - meinetwegen musical correctness - Einheitsklang der NEUNETN wiedergeben. Das war erschreckend für mich, denn ich hatte bei Proben des Original Bruckner Orchesters wo man auf Wunsch einige Passagen zum Einüben zwangsweise viel langsamer als üblich spielte - die einmalige Gelegenheit, dadurch Teile dieser Symphonie in einem Tempo zu hören, bei der diese Musik vorher noch nie gekannte Sinnesempfindungen in mir und anderen auslösten. 

 

DIE NEUNTE IST DIE ERSTE SYMPHONISCHE FILMMUSIK DER GESCHICHTE

Ich bin Filmschaffender und kein Bruckner-Dirigent, daher ging ich wohl unbedarft und mit ganz anderen Erwartungen, als ein Vollblutmusiker, Kritiker oder gar Musikwissenschaftler, bei den Bruckner-Symposien an diese letzte Symphonie Bruckners ran. 

Nach Gesprächen mit einigen der Orchestermusiker und Zuhörer nach einer Probe, hatten diese wohl auch das subjektive Empfinden, dass die experimentell exakt nach Bruckners Vorgabe einmal sehr langsam gespielten Passagen den NEUNTEN ein anderes, viel ausgeprägteres Hörerlebnis sei, als die bisher von allen Dirigenten viel zu hastig intonierte. Ich war tief berührt, denn Bruckner schrieb also nicht umsonst unmissverständlich über die Partitur der NEUNTEN: "Bitte ganz, ganz langsam spielen!"

Zwar hat jeder beim Zuhören einer Symphonie andere Bilder im Kopf, aber ich hatte dabei die emotionale Empfindung, Bruckner erzählt mir hier mit den ihm zur Verfügung stehenden musikalischen Mitteln eine überaus dramatische Geschichte  - es fehlten dazu nur noch die entsprechenden Synonymbilder/Filmszenen dazu. Kein Wunder, denn wie hatte Bruckner doch immer diesen Wagner bewundert, der seine musikalischen Erzählungen gleich für die Bühne komponieren konnte - er (noch) nicht.

Das war der endgültige Auslöser in mir, Bruckners sensitiv zwischen den Notenzeilen verborgene visionären Aufzeichnungen, Randnotizen, seine dramaturgischen Andeutungen und konkreten musikalischen Vorgaben in der Partitur näher zu untersuchen.

Auch ohne den dabei immer mehr zutage tretenden visiblen Angaben in Entwürfen, Skizzen der Dreisätzigen Partitur Bruckners fallen einem bei genauerem Hinhören als Regisseur sofort die für eine Symphonie ungewöhnlich vielen Blöcke in der Partitur auf, welche wie schon erwähnt de facto bereits einzelnen Filmszenen entsprechen – eine besonders charakteristische kompositorische Eigenart, die es bei romantischen Symphonien des 19. Jahrhundert  meines Wissens nur bei BRUCKNERS NEUNTER gibt. Diese musikalischen Teilabschnitte erzählen in sich geschlossene Episoden, haben immer einen klaren Anfang und vereinzelt ein so unverhofft abruptes Ende, was wiederum an harte dramaturgisch klar gesetzte Schnitte im Film erinnern oder enden in sog. (General-)Pausen und bilden damit extrem lange Zeitblenden zwischen den Blöcken/Epochen. 
   

Die wohl bewusst so von Bruckner kinematographisch*1 strukturierten Sequenzen seiner besonderen NEUNTEN sind für mich von ihm klar erkennbare Szenenvorgaben und haben dermaßen eindeutige assoziative Angelpunkte höchster Dramaturgie mit Aufbau, Höhepunkt und Ausklang, dass man sie, wenn man das richtig zu deuten weiß, gar nicht übersehen werden kann.

 

Diese klassischen Elemente der Erzählform ergeben zusammen mit dem alles beherrschenden hochdramatisch arrangierten Leitthema der Göttlichen Schöpfung und den sich daraus bewusst um die Geburts- und Todesstätte Bruckners verortet, ergebenden mit den Zeugnissen des bewegten Abendlandes, quasi die Geschichte, das „Libretto“ meiner sinfonìa visìbile in re minore rigeneratione bruckner. Es galt nun nur noch, aus diesen von Bruckner musikalisch vorgegebenen gewaltigen "Klangbilder" in seinem Sinne eine dramaturgisch und filmtechnisch adäquate Kontrafaktur zu entwickeln. Was für eine Herausforderung! 
   

Eine wichtige künstlerische Inspiration war für mich zudem, dass bereits in den dreißiger Jahren der Regisseur Sergej Eisenstein für seinen Film Aleksandr Nevskij ein formbeständiges Schema schuf, um Kamerabilder mit der Partitur des Komponisten Sergej Prokofjew in Einklang zu bringen. Aber er, Eisenstein, konnte mit Prokofjew darüber reden - ich, Legenstein, mit Bruckner leider nicht.
 
Für den kulturell sehr aufgeschlossenen jungen Bürgermeister und dem Original Bruckner Orchester von Ansfelden, die ich nach anfänglich verständlicher Skepsis von meinem Projekt überzeugen konnte, entwickelte ich folgenden ersten Handlungsablauf für die OpenAir-Welturaufführung zu Bruckners 100.Todestages am neu gestalteten Stadtplatz in Haid/Ansfelden auf einer Großleinwand inmitten der großzügig angelegten Grünfläche vor der Autobahnkirche. Zumal ich zu dieser Zeit Intendant des Ansfeldner Stadtfernsehen war, stand diesem spektakulären Projekt anlässlich der Stadterhebung Ansfeldens wohl nichts mehr im Wege.
   

Aber allein die extrem langsam mahlenden Genehmigungsverfahren brachten das geplante Vorhaben einer spektakulären Uraufführung letztlich leider zum Scheitern. Viele behördliche und betonköpfige Köche verderben nun mal jeden noch so gut angerichteten künstlerischen Brei, was ich in den weiteren (aktuell beinahe 40!) Jahren der Umsetzung meiner sinfonìa visìbile in re minore rigeneratione bruckner immer wieder schmerzlich erfahren musste.

Stadtplatz in Haid/Ansfelden

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*1 Bruckner kannte das Medium Film: Der Kinematograph, die erste funktionierende Filmkamera der Welt wurde von Thomas Alva Edison 1894 in den USA patentiert. Bereits zu Lebzeiten Bruckners wurden mit dem von den Gebrüdern Lumiére erfundenen Cinématographen oder mit der Kurbelfilmkiste (Bioscop) der Brüder Skladonowsky auch in Europa (Paris, Berlin) Kurzfilme öffentlich aufgeführt. Bruckner hat sich von ersten "laufendenBildern" auf Münchner Märkten begeistert gezeigt.

Kooperationspläne mit den Besten der Besten

Niemand geringerer als der bekannte Deutsche Kammersänger Rudolf Schock, mit dessen Schwiegersohn Johny Müller ich in Starnberg bei München eine Filmproduktion gegründet hatte, war der unschätzbare Mittler zum Dirigenten Herbert von Karajan. Dieser hatte nämlich zu dieser Zeit in einer Kapelle auf seinem Anwesen in Salzburg das damals wohl fortschrittlichste Aufnahmestudio der Welt. Hochmodernes digitales Hightech, von Sony-Chef und Gründer Akio Morita selbst installiert.

Es fügte sich zunächst alles wie in einem schönen Traum.

Karajan machte nämlich gerade Experimente mit den neuen digitalen Techniken und war somit der gottgegeben ideale musikalische Partner für die Umsetzung meiner ehrgeizigen
BRUCKNERS NEUNTEN sinfonìa visìbile in re minore rigeneratione bruckner.

Ich musste Karajan meine visuelle Absicht nicht lange erklären, denn er war mitten im Thema, zumal er gerade eine digital exclusively (DDD) Aufnahme Bruckners Sinfonie Nr. 7 in E-dur (die Romantische), mit den Wiener Philharmonikern aufnahm, die bis heute wohl als eine der besten Interpretationen dieses Bruckner-Werks gilt.


Ich konnte mein Glück kaum fassen: Als nächstes sollte die NEUNTE folgen - Die Weichen waren gestellt!

Aber grausam wie das Schicksal nun mitunter auch mit uns Kreativen umspringt, kam es leider zu keiner finalen Zusammenarbeit, denn mein Förderer Kammersänger Rudolf Schock starb überraschend im selben Jahr und Herbert von Karajan nur knapp zweieinhalb Jahre darauf.

Ein Schock - denn da stand ich nun vorm offenen Tor  und war so weit, als wie zuvor ...

Damit aber nicht genug, denn eine Begebenheit aus dieser Zeit sollte in dem Fortkommen des Projektes später noch einmal erheblich schaden: Was ich nämlich als Regisseur an Karajans digitalen Aufnahmen immer bemängelte und Karajan zwar höchst befremdlich aber interessant fand, war selbstredend nicht die Musik oder sein berühmtes Dirigat, sondern die dabei gemachten Videomitschnitte - die ich für nicht mehr zeitgemäß, ich glaube ich sagte unprofessionell, hielt. Keiner in seinem erlauchten Wirkungsbereich konnte verstehen, wie ich mich erdreisten konnte, die visuelle Arbeit des Maestros zu kritisieren! Mir ging es aber wie gesagt gar nicht um Karajans musikalische Arbeit, die zu beurteilen mir selbstredend gar nicht zustand, sondern um eine perfekte Visualisierung BRUCKNERS NEUNTER, die ich in der profanen Umsetzung mit seinen Filmleuten aber überhaupt nicht gewährleistet sah.

Und so löste sich mein eben erst gebautes künstlerisches Traumschloss, die sensationellen Zusammenarbeit mit dem dafür denkbar Besten und seiner Musiker, unbarmherzig in Luft auf. Verständlicherweise fiel ich emotional in ein tiefes Loch. Vom Verlust der unbezahlbaren Kontakte mal abgesehen, musste ich mich jetzt erneut um die richtige musikalische Umsetzung meiner sinfonìa visìbile kümmern. Wo bitte sollte der Dirigent sein, der diesen genialen Karajan ersetzen konnte? 

 

Ich hatte dafür nur noch rund sieben Jahre (bis zum 11. Oktober 1996) Zeit.

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