2004 . Audiovision

2004 . Audiovision

Grund- und Obertonhören


Nachdem ich nun endlich eine vom European Philharmonic Orchestra unter der Leitung Peter Jan Marthé richtig gespielte Orchesteraufnahme BRUCKNERS NEUNTER in den Händen hatte und mich noch öfters mit Prof. Marthé zu Gesprächen über Bruckner in Salzburg und Innsbruck traf, fiel es mir mit einer so dermaßen kompetenten musikalischen Stütze an meiner Seite einfacher, mein für alle anfangs so gewagt scheinendes Vorhaben der in der Partitur versteckten audiovisuellen Informationen darin zu "formulieren".


Ich wollte in meiner Visualisierung nicht besserwissend vermessen sein, aber dokumentarisch, für jeden nachvollziehbar darstellen, dass Bruckner seine NEUNTE bewusst quasi als bühnenreife Filmmusik angelegt hat und nicht, wie allgemein angenommen, als konventionelle Symphonie.


Ich musste diese symphonische Musik, eine der wohl Abstraktesten aller Künste, nach Bruckners Vorgaben in die Syntax der visuellen Welt des Theaters und des Kinos umzusetzen. Klingt im ersten Moment profan und einfach, ist aber viel schwieriger, als ich Anfangs dachte.


Ganze zwei Wochen, nämlich vom 26.Juli bis 6.August 2005 im Schloss Mondsee, durfte ich Prof. Marthé bei seiner Einspielung der Achten Symphonie Bruckners beobachten. Ein echtes Privileg, denn ich durfte mich beispielsweise während der Proben mitten unter die jungen spielenden Musikertalente aus den etabliertesten mitteleuropäischen Orchestern setzen und versuchen, die unterschiedlichen Klangbilder aus dem spezifischen "Hörwinkel" der verschiedenen Instrumente zu charakterisieren. 


Mir fiel ganz schnell auf, dass Tonvorgaben in der Partitur nicht nur von verschiedenen Musikern unterschiedlich wahrgenommen werden, sondern tatsächlich an jeder Stelle des Orchesters ganz anders klangen. Das war alleine genommen noch keine so revolutionäre Entdeckung, aber ich bekam hier realistisch vor Augen/Ohren geführt, warum ein Musikstück vollkommen anders wahrgenommen wird, wenn man vor, links oder rechts vom Orchester sitzt!


Dozenten des Maestros lächelten über meine Entdeckung und klärten mich auf, daß die Sitzordnung in einem modernen Symphonieorchester schon seit jeher der natürlichen Fähigkeit zur individuellen Tonwahrnehmung folgt. Daher sitzen jene Musiker, die sogenannte Grundtöner sind, mit ihren höher klingenden Instrumenten (z.B. Geige, Querflöte, Trompete) auch strickt links  vom Dirigenten und die Obertonhörer (z.B. Bratsche, Cello, Kontrabass, Fagott, Tuba) rechts  von ihm.


Das erklärt zwar einiges, aber trotzdem fiel mir dabei auf, dass selbst der Dirigent an seinem Pult zwar das bisher angedacht machbar beste Hörerlebnis seines neu geschaffenen Klangkörpers hört, aber eben nicht wirklich optimal im Sinne des tatsächlich hörbar Machbaren!


Ich habe beispielsweise die Streicher vorher noch nie in meinem Leben so "körperlich", so berauschend, ja geradezu beängstigend intensiv spürbar gehört, wie mitten unter ihnen sitzend. Die dominante Klarheit der Geigen und Bratschen zu den anderen, etwas zurückgenommen klingenden Instrumente des übrigen Orchesters, brachte mich auf die Idee, jede dieser  Instrumentengruppe - egal ob Grund- oder Obertöner, ob vorne, links oder rechts sitzend - jedem Zuhörer den wirklich vollen, authentischen, quasi den tatsächlichen Bruckner-Klang hören zu lassen. Zwar ist bekanntlich das Ganze mehr als die Summe ihre einzelnen Teile, aber man sollte diese selektiven Teile, diese in sich unglaublich klingenden einzelnen Instrumente und Gruppen auch wirklich (heraus-)hören können.


Wie ich mir von Veranstaltungsprofis später sagen ließ, ist das heute technisch ohne weiteres machbar und seit dem auch strikte Vorgabe  meiner angedachten Sinfonìa visìbile. Denn als ich mir zum Vergleich die im Tonstudio von Marthé sicher mit der bestmöglichen Einfühlsamkeit eines begnadeten Brucknerdirigenten abgemischte Version dieser Achten Symphonie anhörte, waren das nicht mehr dieselben Streicher oder Bläser, die ich vor Ort, auf meinen besonderen Orchester-Hochposten erleben durfte. Das ist meines Erachtens ein Manko aller bisher abgemischten analogen und auch digitalen Tonträger. 

Nach diesen zwei Wochen in Mondsee war ich wie elektrisiert: Bruckner wusste ob der ungeheuren Kraft seiner richtig gespielten NEUNTEN und hatte deshalb ausdrücklich auf das Verständnis "späterer Generationen" (also wohl uns) gehofft, dass sie seine Musik richtig interpretieren. Möglicherweise hat er deshalb zu Lebzeiten darauf verzichtet aus der NEUNTEN eine wagnergleiche erste "Bruckner-Opern zu inszenieren, weil es damals noch gar nicht umsetzbar war.


Den Kopf voll mit diesen unglaublich motivierenden und bei etablierten Musikern sicher nur mitleidiges Kopfschütteln auslösenden Gedanken freute ich mich schon auf die NEUNTE BRUCKNERS, die Prof. Marthé auf meine Bitte hin, noch 2006, nachdem er die Dritte Bruckners überarbeitet hat, einspielen wollte.

Ich fühlte mich 2006 wie Hans im Glück!

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